Gesellschaft
Die neue SUBWAY Kolumne MÄRZ 2012 nochmal abschließend zur Debatte Ölgemälde "Brennendes Braunschweig"
Loriot als spießiger Vertreter, der nur „das schief hängende Bild“ gerade rücken wollte und dabei ein Chaos anrichtet, kennt jeder. Ja, das war Loriots großes Thema: das Scheitern des deutschen Kleinbürgers, der immer nur alles ganz korrekt machen wollte. Die Botschaft des Kult-Sketches: „Kümmere Dich um Deinen Krempel!“ Und da sind wir schon mitten im Thema: Was ist eigentlich unser und was der Krempel der anderen?
Für ein paar Braunschweiger wurde der Öffentlichkeitsbereich der Landessparkasse Braunschweig nun zum Loriotschen Wohnzimmer. Schuld daran: Ein dorthin umgehängtes Ölgemälde. Nicht schief, sondern ganz gerade. Und gemalt vom Braunschweiger Maler und Nationalsozialisten Walther Hoeck , der längst tot ist und dessen Namen sich keiner gemerkt hat. Regional bekannt geblieben ist sein Bild „Brennendes Braunschweig“.
Es zeigt – aus der Ferne gemalt – den Widerschein jenes Bomber-Feuersturms, der Braunschweig 1944 in Schutt und Asche legte. Man sieht einen kilometerhoch aufsteigenden, vom lodernden Feuer darunter hell erleuchteten Rauchpilz. Ein eindrucksvolles Infernal. Eine Feuersbrunst, die in flackerndem Orange, Rot und Grellgelb diese monströse, hochstehende Wolke phosphorisiert.
Das Gemälde wurde den älteren Bürgern zum festen Teil ihrer Erinnerung an das, was zweihunderttausend Phosphor- Brand- und Sprengbomben anrichten können. Aber das ist für Jüngere heute gefühlt so lange her, wie Napoleon oder Goethe. Geschichte halt. Manchmal langweilig, manchmal spannender – je nach Unterricht und Lehrer.
So machten Generationen von Braunschweiger Schülern im Museum vor diesem Bild halt, wie vor anderen Erinnerungsstücken auch, die der Krieg vor fast 70 Jahren übrig gelassen hat. So weit so traurig, aber auch schon so lange her, das es wohl diejenigen emotional am stärksten berührt, die das Sterben der Stadt miterlebt haben.
Nun aber wurde „Brennendes Braunschweig“ in die Bank an der Dankwardstraße umgehängt und geriet dort auf einmal mächtig in Schieflage. Proteste wurden laut und jeden Tag etwas lauter. Die Ratsfraktion der GRÜNEN forderte den Bankdirektor gar in einem offenen Brief auf, das Bild abzuhängen oder mindestens von einer Faschismus-Aufarbeitungs-Ausstellung begleiten zu lassen.
Wortwörtlich hält man es für „unumgänglich, das Bild und seinen historischen Hintergrund - die Bombardierung Braunschweigs im Oktober 1944 als Folge des von Hitler-Deutschland entfachten Zweiten Weltkriegs mit all seinen monströsen Begleiterscheinungen (Auschwitz!) - aufzuarbeiten, um der Gefahr der Entstehung eines möglichen "Opfermythos" vorzubeugen.“
Aha, die Kontext-unfähigen Braunschweiger Bürger laufen also beim Betrachten des Bildes Gefahr, einem Opfermythos zu erlegen. Das ist überheblich. Meinungshoheit. Und das sind harte Geschütze. Und für so einen Bankdirektor, der heutzutage eh schon Schuld an der Finanzkrise sein soll, an Griechenland – und an unseren leeren Portemonnaie sowieso – ist das die Höchststrafe.
Und es ist natürlich auch ein großer Quatsch, denn das besagte Gemälde ist ja längst nicht mehr Hoecks Gemälde, sondern das aller Braunschweiger, die es an eine dunkle Stunde ihrer Stadt erinnert. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger. Hey, wo soll die Gefahr auch herkommen?
Wir fahren ja auch weiterhin auf deutschen Autobahnen ohne gleich instinktiv den rechten Arm aus dem Fenster zu strecken, obwohl Hitler die Autobahnen für seinen Panzersturm auf ganz Europa gebaut hatte. Nein, das sind heute nicht mehr Hitlers Autobahnen, sondern unsere! Und heute transportieren darauf Menschen aus ganz Europa Waren und fahren in den Urlaub, ohne das man deswegen gleich an jeder Raststätte eine antifaschistische Mahnausstellung aufbauen müsste.
Unser Gemälde „Brennendes Braunschweig“ hängt also gut in der Bank, denn es bleibt auch dort Erinnerung und Mahnung zugleich. Was sollte sich auch daran geändert haben? „Brennendes Braunschweig“ ist Anti-Krieg. Klar, in Schieflage zwar, was seine Entstehung betrifft, aber kein Grund, deswegen Empörung zu verschwenden.
Kümmern wir uns also mal wieder um die Finanzkrise und ihre Folgen. Dass ist es, was wir den Bankenjungs in den Nadelstreifenanzügen nicht so einfach durchgehen lassen sollten.
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Über eine ritualisierte Empörung
Im Keller des Altenpflegeheim „Bethanien“ im Braunschweiger Marienstift kann man für einen kleinen Betrag kegeln. Wir hatten das mal für einen Kindergeburtstag gebucht. Ich gönnte mir nach einer Stunde lautstarkem Kinderkegeln eine Pause und setzte mich auf eine Zigarette vor die Tür auf eine hölzerne Bank neben einen sehr alten Mann, der ebenfalls Kippe rauchte.
Und wie das schnell unter Rauchern sein kann, kamen wir ins Gespräch. Der schmale Alte – Hosenträger, kariertes kurzärmliges Hemd, grobes Schuhwerk – erzählte, er sei 1944, fast noch ein Kind, Feuerwehrhelfer in Braunschweig gewesen und hatte die britischen Bomberangriffe aus nächster Nähe miterlebt.
In besonderer Erinnerung ist ihm die junge Frau mit dem kleinen Mädchen an der Hand und dem Kinderwagen geblieben, die sich und ihre Kleinen vor dem Feuersturm auf eine gegenüberliegende Straße retten wollte, die dann aber mit den dünnen Wagenrädern im von der Hitze klebrigen, oder schon flüssig gewordenen Straßenasphalt hängen blieb und während sie verzweifelt zerrte und ruckelte wurde sie unter einer „wie in Zeitlupe“ herabfallenden Häuserfassade begraben.
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Walther Hoeck war damals nicht so nah dran, wie der junge Feuerwehrhelfer. Der Braunschweiger Maler wohnte etwas außerhalb der Stadt. Von der Frau mit den Kindern, die wie viele andere Braunschweiger Innenstädter verbrannt, unter Tonnen von Schutt und Asche begraben wurde oder in Schutzräumen erstickten, sah der zu dem Zeitpunkt fast 50-jährige also nichts.
Was Hoeck vom Angriff der 233 Lancaster-Bomber der „No.5 Bomber Group Royal Air Force“ sah, war der Widerschein des zweieinhalb Tage ununterbrochen wütenden Feuersturms, den der Abwurf von etwa zweihunderttausend Phosphor- Brand- und Sprengbomben planmäßig bewirkt hatte.
Was Hoeck sah, war ein kilometerhoch aufsteigender vom lodernden Feuer darunter hell erleuchteter Rauchpilz. Ein Infernal. Eine Feuersbrunst, die in flackerndem Orange, Rot und Grellgelb diese monströse, hochstehende Wolke phosphorisierte.
Der Brandgeruch war schon Stunden später weit über die Stadtgrenzen hinaus gezogen. Da hatte Hoeck wahrscheinlich bereits seine ersten Skizzen fertiggestellt, die er später zu einem Ölgemälde verarbeiten sollte.
Vom Sterben der Stadt existieren kaum Fotografien. Ja, es gibt welche, die eine alte Frau neben aufeinandergestapelten Kinderleichen zeigt. Und dann existieren jene Aufnahmen, die aus Bomberflugzeugen gemacht wurden, um wohl die totale Vernichtung zu dokumentieren. Die Sieger machten nach dem Einmarsch im Braunschweig auch Aufnahmen von den stehengebliebenen Ruinen, den Häuserskeletten und den schmalen Eisenbahnschienen, auf denen der verbliebene Schutt noch jahrelang weggeschafft wurde.
Die Asche des Babys aus dem Kinderwagen, des kleinen Mädchens und der Frau wurden wohl nie beerdigt. Wie auch? Manche Schutthaufen wurden an Orten mitten in der Stadt aufgeschüttet und wuchsen zu Bergen, auf denen heute Kinder rodeln. Streng genommen sind das auch Friedhöfe. Die Asche der vollständig verbrannten Toten wurde ja nie in Urnen umgefüllt. Aber wer will das genau sagen können?
Hoeck malte also dieses Inferno in Öl. Ein eindrucksvolles subjektives Zeitzeugnis, das nicht viel mehr zeigt, als diese gigantische Rauchwolke, geerdet nur durch einen schmalen Streifen Land, ein kurzes Stück Feldweg, der zu einem Bauernhaus führt.
Die Intensität des Gemäldes ist heute vielleicht am ehesten zu vergleichen mit der Ästhetik einer Atombombenexplosion. Die „Ästhetik des Grauens“– so auch der Titel einer Ankündigung im STERN zum 2003 als STERN-Buch erschienen Fotoband „100 Sonnen" des US-Fotografen Michael Light, der solche Atombombenpilze fotografierte oder Fotos davon sammelte.
Ja, und so könnte man heute nun Hoecks Gemälde ebenfalls betrachten. Aber seit 1945 ist es für viele überlebende Braunschweiger auch Teil ihrer Erinnerung geworden. Dazu wurde es sogar mehrfach kopiert und im Museum ausgestellt. Auch für die Generationen von Braunschweiger Schülern, die etwas über die Geschichte ihrer Heimatstadt erfahren sollten und sollen: Etwa über den Zeitpunkt, als das mittelalterliche Braunschweig sein Gesicht verlor und zu dem Braunschweig wurde, das die Überlebenden und ihre Nachfahren gemeinsam mit tausenden von Flüchtlingen aus den deutschen Ostgebieten gestalteten.
Warum das Gemälde 2012 im Giftschrank verschwinden soll, was Hoeck für eine Type (Nationalsozialist in Funktion) war, wie seine Erinnerung in Öl nach fast 70 Jahren zum absoluten Aufreger wurde, was eine örtliche Bank damit zu tun hat und wie sich alles zu einem großen Irrsinn verwächst, erzählt eine – klar, fad geschriebene – aber immerhin so einigermaßen die Ereignisse zusammenfassende "Fleißarbeit" eines der örtlichen Kulturschreiber ( Martin Jasper ).
Mein persönliches Negativ-Highlight: Die „Bild-Analyse“ des „Kunsthistorikers“ Möller.
Hier also der Artikel:
https://www.newsclick.de/index.jsp/menuid/9759657/artid/15679004
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World-Press-Photo 2011
Die Jury und die begeisterten Medien wollen im Siegerfoto eine berührende abendländische Ikonographie erkannt haben: Die berühmte Pietà-Darstellung - die Gottesmutter Maria und ihr gekreuzigter Sohn Jesus. Das verstehe wer will: Ich sehe da nur eine männliche offensichtlich leidende, verletzte Person und eine weitere, die eine Frau sein könnte. Das kann man deshalb annehmen, da sich Moslem-Männer nicht verschleiern müssen. Bis auf ein paar vergitterte Sehschlitze ist die Person komplett schwarz eingetucht. Die Hände stecken zusätzlich in weißen Handschuhen.
Was bitte hat das mit Maria und Jesus zu tun? Mit dem mitleidenden Blick, dem Augenkontakt, oder einer intimen Berührung der Hände Haut auf Haut? Also Mensch zu Mensch.
Beim World-Press-Photo 2011 stehen für mich zunächst einmal Sprachlosigkeit, Unterdrückung und Freiheitsberaubung im Vordergrund.
Oder ganz zynisch: Das Stockholm-Syndrom.
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Der Fall Syrien macht nun endgültig sprachlos. Die westliche Berichterstattung: widerlich. Jeder wird zum Zuschauer eines von Hohlköpfen angefeuerten blutigen Hundekampfs gemacht. Die am anderen Ende der Ketten stehen im Dunkel. Und man schämt sich. Sogar für Claus Kleber und Genossen.
Wenn schon:
Dann in alter Scheiße lesen.
Neue taugt noch weniger.
https://www.augsburger-allgemeine.de/politik/Bericht-USA-finanzieren-syrische-Opposition-id14767861.html
Ich frage mich manchmal, was sich heute der deutsche Fernsehzuschauer denkt, wenn er Nachrichten schaut. Geht des den meisten schon so wie mir, oder bin ich noch Minderheit? Immer massiver nervt mich dieser tendenziöse Ton. Früher war das doch viel dröger. Aber das passt zu den Nachrichten. Muss sogar passen!
Mal ehrlich, Marietta Slomka (heute-journal) und Caren Miosga (Tagesthemen) – das ist doch kaum noch zum aushalten. Und das erinnert doch im Ton immer mehr an eine übergebildete, hochnäsige Gespielin, der man den Laufpass gegeben hat und sich eigentlich freut, das man das mit dem Heiratsantrag damals doch nicht final gemacht hat. Was haben die bloß? Warum sind die so? Diese Schnutigkeit, dieses unbedingt zwanghafte Emotion und Anteilnahme zeigen wollen!
Claus Kleber – ja, der nervt nicht, aber dem merkt man doch schon die aussterbende Art an. Aber leider, leider: er versucht auch immer mehr zu gefallen. Der verslomkat oder vermiosgat Sendung für Sendung mehr. Zumindest befürchtet man das.
Was ist das also genau? Dummheit? Denkfaulheit? Degeneration? Ich glaube es ist ein Gefallen-wollen-um-jeden-Preis. Die Spätfolgen der Nachrichten der Privatsender. Das Ankerman-Syndrom!
Wer behauptet das eigentlich, das Nachrichten erst dann welche sind, wenn man sie in einen möglichst persönlichen Kontext stellt? Nur was für ein Kontext ist das dann? Wer sind Slomka und Mioska? Wo kommen die her und warum heißen die nicht Frau Müller und Frau Schmidt? Ist das auch schon Teil der Inszenierung?
Nein, denn wäre es eine Inszenierung, dann hätten sie sicher Doppelnamen: Frau Slomka-Miosga und Frau Mioska-Slomka. Und dann bekäme man sicher noch mitgeliefert, das die eine Lesbierin und die andere in dritter Ehe mit einem farbigen Baseballspieler verheiratet ist. Aber selbst wenn das wahr wäre, wer will das überhaupt von einer Nachrichtensprecherin wissen? Soll das nun der Ausgleich sein für qualitativ immer miesere, tendenzielle Nachrichten?
Es ist doch eben gerade das Nichtwissen, das mich davon befreit, das, was mir die Sprecherin dort serviert,mit ihrer persönlichen Lebens- und Leidensgeschichte abgleichen zu müssen. Das will ich nicht. Ich möchte auch nicht wissen, wie Slomka und Miosga über die Afrikanische Revolution denken, nicht, das sie schon einmal in Griechenland im Urlaub waren und auch nicht das sie Wulff mittlerweile untragbar finden.
Das würden die auch gar nicht sagen? Natürlich tun sie das: Mit Gesten, Betonungen und einer so wenig zurückhaltenden Körpersprache, das man unzweifelhaft von Vorsatz ausgehen muss.
SUBWAY KOLUMNE FÜR MÄRZ 2011
Ja doch, ich weiß es ja selbst – eine Kolumne droht dann zu kippen, wenn der Kolumnist nicht mehr aufhören kann, über seine Kinder und Krankheiten zu schreiben. So gesehen hätte ich mir längst einen festen Schreibplatz in der Örtlichen verdient.
Also: In den vergangenen Jahren habe ich nicht weniger als neun Mal über meine Gebrechen berichtet. Von einer Nahtoderfahrung mit einem Rosinenbrötchen, über die Entdeckung der Prostata bis nach noch weiter hinten. Ja doch, der Rücken würde noch etliche Seiten füllen, wenn es nur nicht immer so persönlich wäre.
Also verspreche ich jetzt, dass die nun folgende Rücksichtnahme aber wirklich das Allerletzte sein wird. Nicht als Hilfe zur Selbsthilfe, sondern als finale Warnung. Und die beginnt an einem frostigen Morgen am Braunschweiger Hagenmarkt auf der Suche nach diesem ominösen Rückenheiler, der so ähnlich klingt, wie der ehemalige Bundeskanzler, der jetzt russisches Gas verkauft.
Die Sonne scheint kalt. Hagenmarkt Ecke Casparistraße beobachte ich die Schlachterfräuleins beim Mettaufhäufeln. Schöne Farben. Ton in Ton zu den engen rosaroten Kitteln. Gegenüber logieren Liebesdienerin. Das weiß ich aus Inseraten. Man erkennt es bei genauerem Hinsehen an den blickdichten roten Vorhängen in den oberen Stockwerken. Angeblich soll es dort auch einen Hinterhofbetrieb mit weiteren Damen geben.
Da der Wunderheiler auch auf einem Hinterhof zu finden sein soll, wird mir ein wenig bange. Aber ich habe Glück, denn der Rückenbrecher arbeitet direkt vis-a-vis der Fleischhaufen. Und es gehört sicher abends noch mehr Mut dazu, ihn zu besuchen, als für einen Vegetarier am Morgen diese öffentlichen rosa Fleischgelüste zu bestaunen.
Warum? Die kleine Gasse die sich Richtung Praxis auftut ist so eng und düster und die Eingangstür zum Knochenverdreher so rammschig, das ich mir sicher bin, nach 19 Uhr, wenn die Laternen ausgehen, gehört dieser Ort zu jenen Braunschweiger Orten mit höchster Kriminalitätsrate. Egal, also rein.
Neben mir drängt sich eine Alte mit Krücken in den engen Lift. Uns beiden ist klar: Wer zu erst oben rauskommt, der wird auch zuerst durchgeschüttelt. Ob die Dame schon mal hier gewesen ist? Ist etwas schief gegangen?
Viel, viel später werde ich mich an sie erinnern, als ich in fadenscheiniger Unterhose eine Erklärung unterschreiben muss, dass der Doktor nicht schuld ist, wenn etwas schiefgeht. Aber gut, die Praxis ist zunächst das Gegenteil des Praxiseingangs. Großräumiger Empfangsraum. Hektische Betriebsamkeit.
´Der Ton des Personals ist süffisant-burschikos. In die Jahre gekommene Attraktivität von Gleichgültigkeit gezeichnet. Ich denke mir noch nichts dabei. Wird wohl bei den ganzen Verkrümmten so eine Art Abwehrhaltung sein. Also sitze ich geschlagene Zweieinhalbstunden in einem rammelvollen viel zu engen Wartezimmer und rutsche, wie alle anderen hier, von einer Arschbacke auf die andere.
Mit Rücken ist nicht gut sitzen. Als ich dann doch noch meinen Namen aus dem Lautsprecher knistern höre, springe ich auf, was ich besser nicht hätte tun sollen. Aber auch schon egal, ich bin ja nun dort, wo so viele andere hin wollen, die aber nicht die Geduld mitbringen monatelang auf einen Termin zu warten.
Der dauert dann exakt fünf Minuten und besteht darin, das ich mich fast komplett ausziehen muss, während mich so ein junger Kerl auf seine Frottee-rosa bespannte Liege schmeißt, sich dann so obendrauf, als wären auch hier rote Gardinen an den Fenstern. Nach dieser hochmerkwürdigen und schmerzvollen Grundschulbalgerei samt übler Knackgeräusche erklärt das wilde Bürschchen über mir, das nun alles wieder gut sei und ich getrost nach Hause gehen könne – das Problem wäre behoben und die Bandscheibe könne drin bleiben.
Das war alles? Zurück auf dem Hagenmarkt mache ich zwei unvorsichtige Schritte, und schon fährt es mir wieder gewohnt messerscharf ins Kreuz. Und dafür hat die Kasse nun mehr bezahlt, als die Liebesdienerinnen gegenüber für so eine läppische Fünf-Minuten-Massage verlangen würden.
Denn die massieren laut Inserat für eine volle Stunde body-to-body und sind dabei auch noch völlig nackt! Und ich bezweifle, das man dort monatelang auf einen Termin warten oder stundenlang unbequem vorsitzen muss, bis man endlich Erleichterung findet.
Fazit: Ein Hinterhof bleibt immer Hinterhof. Ob nun mit oder ohne rote Gardinen. Und während ich mich in Trippelschritten vorwärtspirsche, winkt die Schlachtereifachverkäuferin mitleidig mit einem Mettklümpchen herüber und das kostet dort auf Brötchenhälfte mit Zwiebelringen obendrauf 1,40 Euro. Eine gute Investition. Und die ist am Hagenmarkt offensichtlich zur Seltenheit verkommen.
Au weia. Ja, das ist so ein Thema. Da traut sich keiner ran. Schon die Auswahl des Themas schafft Unruhe. Oder wie die Frankfurter Rundschau heute aus dem gerade veröffentlichten Bericht des „unabhängige Expertenkreis Antisemitismus“ zitierte: „Angesichts moderner Kommunikationswege wie dem Internet sei die Verbreitung dieses Gedankengutes kaum zu unterbinden. Dadurch gerate die weitgehende Tabuisierung des Antisemitismus in Gefahr, wie sie bisher Konsens in der deutschen Öffentlichkeit gewesen sei.“
Das Tabu ist also Konsens. Nicht die gesellschaftliche Ächtung. Oder ist das schon dasselbe? Egal – denn wer würde da Widerspruch einlegen wollen? Jedenfalls niemand den ich kenne. Weit kniffliger wird es innerhalb so eines Tabus allerdings in der Beurteilung, was denn nun Antisemitismus sei und in wie weit der unter Deutschen nun verbreitet oder eben nicht verbreitet ist. Eine „unabhängige Expertengruppe“ wurde also 2008/9 von der Bundesregierung beauftragt, mal zu schauen, was der Sachstand ist in Deutschland. Das Ergebnis liegt jetzt 2012 vor.
Zunächst mal zu den Experten. Da sind der Mitbegrunder und Leiter der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, ein Islamwissenschaftler, eine Mitarbeiterin der Bildungsabteilung im Haus der Wannseekonferenz, der erste Prorektor und Leiter der Hochschule fur Judische Studien, ein prof. des „Centre for the Holocaust and Twentieth-Century History“, ein Politikwissenschaftler und Soziologe an der Fachhochschule des Bundes, der Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums fur europäisch-judische Studien, der Senior Research Fellow bei der "European Foundation for Democracy" in Brussel, eine wissenschaftliche Angestellte am Zentrum fur Antisemitismusforschung und eine freie Mitarbeiterin "Expertenkreis Antisemitismus".
Zum Ergebnis der Studie: Man stellt dort fest, das 20% der deutschen Bevölkerung „latent“ antisemitisch sind. Peter Longerich – einer der Experten – dazu: Die neue Form des Antisemitismus äußere sich nicht zwingend in Taten, sondern sei „in den Einstellungen vorhanden." Ist das nun beruhigend oder beunruhigend? Gedankenpolizei oder Aufruf an eine aufmerksame Zivilcourage-Gesellschaft?
Aber weiter bei Longerich: Es handele sich dabei jedoch nicht um ein gesellschaftliches „Randphänomen“. Beispielsweise seien rassistische, rechtsextreme und antisemitische Parolen auch weiterhin auf deutschen Fußballplätzen an der Tagesordnung.
Erstes Veto: Und mal ehrlich, wer die Sache ernst nimmt, denn ärgern solche Ungenauigkeiten bei so einem wichtigen Thema. Denn es ist ebenso klar, dass nicht der fußballschauende Familienvater mit seinen Kindern antisemitische Parolen gröllt, sondern es sind – wenn es passiert – eben im Stadion wie auf der Straße die rechten extremen Randgruppen. Wer etwas anders behaupten will, der sollte das genauestens belegen. Von den rechten Hooligans und Nazis in den einschlägigen Blocks der Stadien auf die Mitte der Gesellschaft zu zielen ist unredlich.
Und passt dann eben auch nicht mit der nächsten Feststellung zusammen, die da sagt: „Rund 90 Prozent der antisemitischen Straftaten seien rechtsextremen Tätern zuzuordnen.“ Die Frankfurter Rundschau weiter: „In der deutschen Gesellschaft seien antisemitische Einstellungen in erheblichem Umfang vorhanden und zwar in unterschiedlichen inhaltlichen Ausprägungen, heißt es in dem Bericht.“
Tja, was soll man damit anfangen? Interessanter ist da schon die Feststellung der Experten, dass sich als neuer Träger von Antisemitismus dem Bericht zufolge mittlerweile auch der Islamismus erweise. Wie stark der Antisemitismus allerdings auch bei muslimischen Deutschen verankert ist, müsse noch untersucht werden.
Wenn man so will, ist hier also die These angelegt, das mit wachsender Zahl Deutscher mit muslimem Hintergrund womöglich auch der Antisemitismus ansteigen könnte. Untersuchungen auf deutschen Schulhöfen scheinen das zu bestätigen, wie Freia Peters schon 2009 für die ZEIT berichtete: „Viele junge Muslime haben mit Juden ein Problem (...)Experten bezweifeln zwar, dass viele junge Muslime hierzulande eingefleischte Judenhasser sind. Doch der latente Antisemitismus ist weit verbreitet.“
"Latenz" bleibt 2012 das bestimmende Stichwort: Wieder Frankfurter Rundschau von heute: „Der Begriff „latent“ weist darauf hin, dass sich der Antisemitismus nicht zwingend in Taten äußert, sondern in Einstellungen der Menschen vorhanden ist.“
Man bleibt also etwas ratlos zurück. Noch ratloser, wenn man Antisemitismus im eigenen Umfeld überhaupt nicht beobachtet. Und dafür nicht einmal ein Tabu verantwortlich machen kann. Die allermeisten von uns könnten sogar sagen, Antisemitismus ist im Alltag kein Thema.
Eines allerdings fehlt scheinbar in der Studie. Zumindest gibt die mediale Berichterstattung keinen Aufschluss. Vielleicht liegt es daran, das es sich bei dem folgenden Problem tatsächlich um ein internationales und nicht um ein rein deutsches Phänomen handelt: Nämlich die Frage, wie viele Menschen im Zusammenhang mit der globalen Finanzkrise „latent“ antisemitistisch denken bzw. sich sogar äußern oder zu einem neuen Antisemitismus gefunden haben.
Es scheint tatsächlich eine Tabuaufweichung zu geben, die im ersten Schritt Banken wie Goldman Sachs und Co als Verursacher der Finanzkrise sehen und im zweiten Schritt eben daraus einen neuen Antisemitismus entwickeln. Also quasi eine Reaktivierung des „Internationalen Finanzjudentum“ der Nationalsozialisten. Dazu gibt es keine Untersuchungen.
Aber eben da findet sich ein erschreckender
20%-plus-X-Konsens, der wenig bis gar nichts mit ein paar Idioten auf dem Fußballplatz oder Schulhof zu tun hat. Aber klar: Die weitaus gefährlichere Brand-Konstruktion: – finanzkrise, juden, goldmannsachs – bekommt niemand hin von den Fußball-Antisemiten. Antisemiten sind die Bildungsfernen. Zumindest scheint das bisher noch eine tröstliche Behauptung. Und wenn Bildung nun automatisch Antisemitismus-steigernd wäre, au weia – dann wird es wirklich düster.
„Die Ähnlichkeit und Gleichmacherei sind das Merkmal schwacher Augen.“ Nietzsche
Die WELT hat einmal behauptet: „Die Deutschen sind ein Haufen Individualisten!“ Auf der gegenüberliegenden Seite leben die Kollektivisten. Und die bekommen im word-Schreibprogramm die rote Welle. Ungeschrieben, ungebraucht, also falsch.
Aber was wäre, wenn die WELT irrt und die Deutschen ein Haufen von Kollektivisten sind?
Vieles spricht sogar dafür. Individualismus in Deutschland in seiner erlebbaren Ausprägung unterstützt die These.
Warum? Weil er kein individuelles System von Werten und Normen formuliert. Individualität markiert heute viel mehr Schrulligkeiten oder exotisch-dekorative Verhaltensweisen. Nicht der Konflikt oder die Auseinandersetzung zeichnet diese Individualität aus, sondern die besetzte Nische.
Individualität ist „E-Zigarette rauchen“ oder „vegan leben“. Oder im anderen Extrem: Ganzjähriges Garten-Kampfgrillen und die konsequente Verweigerung Müll zu trennen, als wäre es Brandzeichen eines Kollektivismus, seine Joghurtbecher im gelben Säckchen zu entsorgen. Aber das alles hat ja mit Individualität nichts zu tun.
Individualität ist nur mehr zur gesellschaftlichen Pflichtaufgabe verkommen.
Und das beginnt schon bei der Erziehung der Jüngsten: In modernen integrierten Gesamtschulen beispielsweise hat das Augenmerk auf individuelle Entwicklung den höchsten Stellenwert. Das geht so weit, das sogar soziale Kompetenz, also ein zutiefst kollektivistisches Merkmal Teil der Individualerziehung geworden ist.
Aber es kann ja nicht sein, das sich Individualität am Maß der Anpassung misst. Das ist blanker Unsinn mit Folgen: Alberner Surrogat-Individualismus in allen erdenklichen und unerdenklichen Daseins-Formen spricht eine entlarvende Sprache. Und so entlarvend, so unkonkret ist das Bild.
Klar, jetzt könnte man eifrig behaupten: Facebook und Co sind schuld! Und wer würde widersprechen, wenn man im permanenten Abgleich mit „Freunden“, also „Gleichgesinnten“ den Feind des Individualismus identifiziert. Aber die Sache sitzt ja tiefer.
Aktuell habe ich Christiane Pauls „Das Leben ist eine Ökö-Baustelle“ auf dem Tisch. Man könnte meinen, die erfolgreiche deutsche Schauspielerin verkörpere schon alleine ihres Erfolges und ihrer prädestinierten Tätigkeit wegen Individualität. Was also bitte mag Sie veranlasst haben, immerhin zusammen mit Peter Unfried das weibliche Pendant zu Unfrieds „Öko“ zu schrieben?
Hier wird doch auf klarste Weise sichtbar, auf welche Weise sogar unsere Vorzeige-Individualisten von einer Sehnsucht nach Kollektivismus beseelt werden. Und damit sich dieser Verdacht gar nicht erst erhärtet, steht dann in dicken Lettern auf dem Buchrücken: „Man darf nicht alles hinnehmen, wie es ist!“
Aber wie viel Leitbild, Anecken und Protest steckt überhaupt in der Ökofibel, von deren Cover die Schöne so hinreißend spitzbübig lächelt? Tatsächlich heißt es dann auch im Vorwort: „Was mich um- und antreibt (...) hat (...) damit zu tun, das ich mich als Teil unserer Gesellschaft fühle, eine Wohlstandgesellschaft, in der ich Verantwortung übernehmen möchte.“
Ha! Wer bitte möchte da entscheiden, ob das nun ein Anflug von Individualismus oder eine kollektivistische Äußerung ist?
Aber es macht klarer, um was es geht: Wahrer Individualismus verlangt ein abgegrenztes Weltbild. Ein von eigenen Normen und Werten geprägtes Lebensmodell. Oder noch einfacher: Eine klare Positionierung, die alles sein kann. Aber eines nie darf: den Abgleich suchen mit Gegebenheiten. Mit dem Möglichen. Dem Machbaren. Was natürlich nicht heißt, das Individualität den gesellschaftlichen Konsens auf Teufel komm raus verweigern muss. Aber sie sollte nicht jedes Mal manisch mit ihm ins Bett steigen.
Mein Freund Ingo Niermann sagt dazu:
"Alexander, was du als Pseudo-Individualität beschreibst, ist ganz einfach das bürgerlich-christliche Verständnis von "Individualität": aus innerem Antrieb heraus zum gleichen Ergebnis zu kommen. 2+2 ist ja auch für alle 4. "Individuell" ist dagegen, wenn du an deine 2 noch ein Kringelchen dranhängst."
Und hier das Buch von Christiane Paul und Peter Unfried:
https://www.amazon.de/Das-Leben-ist-eine-%C3%96ko-Baustelle/dp/3453280210/ref=sr_1_cc_1?s=aps&ie=UTF8&qid=1327148915&sr=1-1-catcorr
Deutschland-Trilogie Teil III
Die dringende Frage nach der Wulff-Debatte heißt nicht, welches Deutschland wir wollen, sondern ob wir Deutschland überhaupt noch wollen und was die Alternative wäre.
Ja doch, das klingt zunächst wie Hammer auf Amboss, taugt aber zur sinnvollen Zusammenfassung eines kompliziert gehaltenen Problems. Und ist die Frage erst einmal heraus, sehen die Reaktionen nicht selten so aus als hätte man mit der Frage nach Deutschland die Büchse der Pandora geöffnet.
Trainiert an Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ bricht ein Geschrei los, als wäre das personifizierte Böses thematisiert. Wenn aber schon die Frage nach Deutschland allein für viele revanchistisch klingt, erzählt das mehr als eine schuldig gebliebene Antwort. Die Aussage „Ich bin Deutsche/-r“ klingt wie verkopfte Gesinnung und nicht wie emotionale Zugehörigkeit.
Die wohl häufigste Antwort auf die Frage, was bedeutet Dir eigentlich Deutschland, lautet heute: „Das ist mir nicht so wichtig.“ Gerne nachgelegt wird: „Was soll eigentlich dieses ständige Palavern über Deutschland?“
Selbst dann, wenn man gemütlich beim Essen sitzt und eigentlich über alles und nichts gesprochen hat, nur nicht über Deutschland. Deutschland ist also kein Thema. Und die Abwehr einer Auseinandersetzung wird vielen zur Prophylaxe wie die Betonung der Gleichgültigkeit zur Litanei wird.
Wäre da nicht bloß immer diese Unwucht zu spüren. Diese Sehnsucht nach Lässigkeit im Umgang mit Nation und Zugehörigkeit. Die Büchse der Pandora ist ja in Wirklichkeit ein Gordischer Knoten. Also nochmal die Frage: Was bedeutet Ihnen Deutschland? „Nichts“ kratzt an der Zweidrittelmehrheit. Das bedarf kaum einer seriösen Umfrage, da reicht schon der Lackmustest im Großraumbüro.
Viel erstaunlicher an diesem „Nichts“ ist übrigens die allgemeine Zustimmung, die eine fehlende gesellschaftliche Ächtung dieses „Nichts“ komplett ersetzt hat.
Die Ersatzfrage nach einem "Zugehörigkeitsgefühl" wird da schon mit größerem Interesse weiterverfolgt. Generell kann man dann zunächst feststellen, dass sich die Intensität von Zugehörigkeit proportional zum Sinken der umgebenden Quadratkilometerzahl verhält.
Erstaunlich ist die Tatsache, dass Globalisierung, Internet und Social Media – kurz das weit geöffnete Fenster zur Welt und zu den Menschen in dieser Welt – daran überhaupt nichts geändert haben. Die eigene Wohnung, die Straße, der Ort, in dem man lebt, sind unabhängig von einem völlig neuen Weltverständnis Hort der Geborgenheit geblieben. Allerdings einer, der sich schamvoll einem Bekenntnis entzieht.
Heimat wird ganz augenscheinlich unabhängig von politischen oder gesellschaftlichen Verhältnissen wahrgenommen, gefühlt, gelitten. Hat aber heute den Status von etwas fast Pornografischem. Oder milder: Wie eine Zärtlichkeit, die in der Öffentlichkeit verpönt ist. Sicher liegt das auch daran, das es scheinbar so etwas wie eine räumliche Begrenzung für Heimatgefühle gibt.
Dabei ist Heimat nie Staat oder Land. Liegt es schlicht daran, das die deutsche Kriegserfahrung bei Millionen deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen eine Erfahrung hinterlassen hat, die heute Teil einer gesamtdeutschen oder gar europäischen Befindlichkeit geworden ist? Im Sinne von: Der Staat führt Kriege, die Heimat vernichten. Ergo sind Staat und Heimat nicht identisch?
Oder näher am Menschen: Die Großmutter, die auch auf Besuch nie mehr nach Ostpreußen zurück wollte, hat das so einfach begründet: „Heimat – das sind die Menschen. Die Landschaft allein reicht dafür nicht.“
Die Antwort auf die Frage, was uns Deutschland bedeutet, muss demnach letztlich eine intellektuell zu beantwortende Frage sein. Und es ist also zunächst überhaupt kein Beinbruch, sie auf der emotionalen Ebene mit „Nichts“ zu beantworten. Denn die Überlegung, welches Deutschland wir wollen, verlangt eine komplizierte und in der deutschen Geschichte möglicherweise zu oft überstrapazierte Entscheidungsfindung.
Heimatgefühle sind also eher emotionaler Natur. Die Sicherung der Heimat in einem übergeordneten Staatengebilde ist dem folgend nicht automatisch mit einer Liebe zu diesem künstlichen Schutzgebilde verbunden. Eigentlich sogar im Gegenteil. Die Liebe zu Staat und Vaterland ist bereits eine verkopfte, die wunderbar, aber eben manchmal auch ganz furchtbar sein kann.
Da, wo man sich nicht erklären muß.“
Johann Gottfried von Herder
Jonathan Widder - „Deutsch in 'Kaltland“ in der FAS, 15. Jan.2012
Eine Erwiderung
Deutschland-Trilogie Teil II
Jonathan Widders Essay-Auszug in der aktuellen Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung mag nach dem ersten Lesen wie ein altvertrautes Feuilleton- Deutschland-Bashing klingen. Aber in Wahrheit ist es eine wunderbare Sehnsucht nach einem Deutschland geworden, das so bedingungslos Heimat sein soll, aber sich diesem kindlich-naiven Sehnen des Autors beharrlich widersetzt.
Leider hat es Widder als solches noch nicht erkannt. Denn das könnte ihm - und auch ein stückweit seinen Lesern - vieles einfacher machen.
Worum gehts? Jonathan Widder ist Herkunftsdeutscher, der sich zunächst mal freut, dass er so viele Freunde in in Osteuropa hat, denen er längere, sogar monatelange Besuche macht und dem aber regelmäßig auf dem Weg zurück nach Deutschland grauselt.
So weit, so gut, dass geht auch hunderttausenden Volkswagen-Mitarbeitern und deren Familien im Rückflieger so, wenn sie ihre jährliche Sommerfernreise beenden müssen, weil die Werksferien nunmal unwiederbringlich zu Ende sind und der Alltag am Fließband wieder beginnt. Normalerweise hält so ein Leidenszustand dann zwei, drei Tage, aber das erträgt der VW-ler stoisch, bis ihn der gewohnte Alltag wieder hat, wie es gemeinhin heißt.
Aber bei einem Schöngeist wie Jonathan W. sitzt der Schmerz natürlich tiefer. Alles andere wäre ja auch zu gewöhnlich. Der Gute Jonathan sitzt also im Zug genauer in einem aus der Ukraine und leidet feuilltonistisch-überproportional: Das näherrückende Deutschland macht, das es sich bei ihm anfühlt, als würde ihm „ein spitzer Haken in den Kopf gehackt, direkt ins Gehirn.“ (Das steht da wirklich Wort für Wort!)
Und wüsste man es nach wenigen Zeilen nicht besser, man würde meinen, da berichtete ein abgeschobener Asylbewerber, der mit seinen tatsächlichen Ängsten kämpft, die ihm in seiner alten Heimat Übles erwarten lassen. Und weil Jonathan oft verreist, musste er sich also, wie er offen zu Protokoll gibt, einen „Panzer“ zulegen, damit er sein furchtbares Deutschland überhaupt noch erträgt. Unter diesem deutschen Schützenpanzer verbirgt er dann seine „wichtigsten Gefühle“.
Und weil das nun emotional alles so arg furchtbar ist mit ihm und Deutschland, sucht er händeringend nach Erklärungen, die dann so klingen:„Während unsere Autos auf der ganzen Welt bewundert werden, ernten wir Deutsche als Menschen meist eher ein müdes Lächeln: In vielen Ländern werden wir als „Kartoffeln“ bezeichnet.“ Das allerdings ist so altbacken Rimini, wie es im 21. Jahrhundert auch ziemlich dolle blöd ist. Aber der Mann meint es ernst mit seinem Kartoffelvergleich.
Und er wird damit im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ernst genommen, als hätte man es für bitter nötig gehalten, jetzt aber endlich mal auf Teufel komm raus gegen Thea Dorns “Deutsche Seele“ anzuschreiben und gegen Matusseks „Wir Deutschen“ sowieso.
Um der Wahrheit genüge zu tun: Am Ende seines "Essay-Auszugs" hat Widder dann doch noch so etwas ähnliches, wie einen Bogen versucht und die „Perfektion“ als das eigentliche deutsche Übel ausgemacht. Wie originell!
Und er gibt seinen herkunftsdeutschen Lesern - für Deutsche mit migrantem Hintergrund kann es ja nicht gedacht sein - mit auf den Weg: „Wer das Ziel der Perfektion aufgibt, erreicht nicht zwangsläufig weniger. (...) wir wollen tief im Inneren einfach nur ein bisschen öfter unsere Gefühle auftauen (...) Wer weiß, vielleicht entstünde dabei am Ende sogar ein ganz neues Gefühl von Heimat.“
Das ist Pastor Fliege und Peter Lauster in Personalunion. Das ist eine deutsch-romantische Gefühlsdusseligkeit, die sich nach nichts weniger sehnt, als nach Weihnachtsatmosphäre auf dem Biedermeiersofa unterm röhrenden Hirsch in Öl. Oder etwas neutraler ausgedrückt: Das ist die erschreckende Unfähigkeit, einer Sehnsucht nach Heimat in Deutschland irgendwie auf halbwegs erwachsene und anständige Weise Ausdruck zu verleihen.
Jonathan Widder sehnt sich nach Deutschlandgefühlen. Ja doch, der gute Mann möchte von Seinesgleichen – also von uns – geliebt werden. So geliebt werden, wie immer wieder mal für ein paar Monate in diesem kleinen Dorf in der Ukraine, wo er als Deutscher mit guten Freunden am Tisch sitzend „mit Fragen und Aufmerksamkeiten förmlich überschüttet wird“ die sich ihm „immer wieder mit einem Augenzwinkern ihre Bewunderung versichern.“ Bewundernswert dämlich.