Montag, 23. Januar 2012

Jeder fünfte Deutsche latent antisemitisch?



Au weia. Ja, das ist so ein Thema. Da traut sich keiner ran. Schon die Auswahl des Themas schafft Unruhe. Oder wie die Frankfurter Rundschau heute aus dem gerade veröffentlichten Bericht des „unabhängige Expertenkreis Antisemitismus“ zitierte: „Angesichts moderner Kommunikationswege wie dem Internet sei die Verbreitung dieses Gedankengutes kaum zu unterbinden. Dadurch gerate die weitgehende Tabuisierung des Antisemitismus in Gefahr, wie sie bisher Konsens in der deutschen Öffentlichkeit gewesen sei.“

Das Tabu ist also Konsens. Nicht die gesellschaftliche Ächtung. Oder ist das schon dasselbe? Egal – denn wer würde da Widerspruch einlegen wollen? Jedenfalls niemand den ich kenne. Weit kniffliger wird es innerhalb so eines Tabus allerdings in der Beurteilung, was denn nun Antisemitismus sei und in wie weit der unter Deutschen nun verbreitet oder eben nicht verbreitet ist. Eine „unabhängige Expertengruppe“ wurde also 2008/9 von der Bundesregierung beauftragt, mal zu schauen, was der Sachstand ist in Deutschland. Das Ergebnis liegt jetzt 2012 vor.

Zunächst mal zu den Experten. Da sind der Mitbegrunder und Leiter der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, ein Islamwissenschaftler, eine Mitarbeiterin der Bildungsabteilung im Haus der Wannseekonferenz, der erste Prorektor und Leiter der Hochschule fur Judische Studien, ein prof. des „Centre for the Holocaust and Twentieth-Century History“, ein Politikwissenschaftler und Soziologe an der Fachhochschule des Bundes, der Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums fur europäisch-judische Studien, der Senior Research Fellow bei der "European Foundation for Democracy" in Brussel, eine wissenschaftliche Angestellte am Zentrum fur Antisemitismusforschung und eine freie Mitarbeiterin "Expertenkreis Antisemitismus".


Zum Ergebnis der Studie: Man stellt dort fest, das 20% der deutschen Bevölkerung „latent“ antisemitisch sind. Peter Longerich – einer der Experten – dazu: Die neue Form des Antisemitismus äußere sich nicht zwingend in Taten, sondern sei „in den Einstellungen vorhanden." Ist das nun beruhigend oder beunruhigend? Gedankenpolizei oder Aufruf an eine aufmerksame Zivilcourage-Gesellschaft?

Aber weiter bei Longerich: Es handele sich dabei jedoch nicht um ein gesellschaftliches „Randphänomen“. Beispielsweise seien rassistische, rechtsextreme und antisemitische Parolen auch weiterhin auf deutschen Fußballplätzen an der Tagesordnung.



Erstes Veto: Und mal ehrlich, wer die Sache ernst nimmt, denn ärgern solche Ungenauigkeiten bei so einem wichtigen Thema. Denn es ist ebenso klar, dass nicht der fußballschauende Familienvater mit seinen Kindern antisemitische Parolen gröllt, sondern es sind – wenn es passiert – eben im Stadion wie auf der Straße die rechten extremen Randgruppen. Wer etwas anders behaupten will, der sollte das genauestens belegen. Von den rechten Hooligans und Nazis in den einschlägigen Blocks der Stadien auf die Mitte der Gesellschaft zu zielen ist unredlich.

Und passt dann eben auch nicht mit der nächsten Feststellung zusammen, die da sagt: „Rund 90 Prozent der antisemitischen Straftaten seien rechtsextremen Tätern zuzuordnen.“ Die Frankfurter Rundschau weiter: „In der deutschen Gesellschaft seien antisemitische Einstellungen in erheblichem Umfang vorhanden und zwar in unterschiedlichen inhaltlichen Ausprägungen, heißt es in dem Bericht.“

Tja, was soll man damit anfangen? Interessanter ist da schon die Feststellung der Experten, dass sich als neuer Träger von Antisemitismus dem Bericht zufolge mittlerweile auch der Islamismus erweise. Wie stark der Antisemitismus allerdings auch bei muslimischen Deutschen verankert ist, müsse noch untersucht werden.

Wenn man so will, ist hier also die These angelegt, das mit wachsender Zahl Deutscher mit muslimem Hintergrund womöglich auch der Antisemitismus ansteigen könnte. Untersuchungen auf deutschen Schulhöfen scheinen das zu bestätigen, wie Freia Peters schon 2009 für die ZEIT berichtete: „Viele junge Muslime haben mit Juden ein Problem (...)Experten bezweifeln zwar, dass viele junge Muslime hierzulande eingefleischte Judenhasser sind. Doch der latente Antisemitismus ist weit verbreitet.“

"Latenz" bleibt 2012 das bestimmende Stichwort: Wieder Frankfurter Rundschau von heute: „Der Begriff „latent“ weist darauf hin, dass sich der Antisemitismus nicht zwingend in Taten äußert, sondern in Einstellungen der Menschen vorhanden ist.“

Man bleibt also etwas ratlos zurück. Noch ratloser, wenn man Antisemitismus im eigenen Umfeld überhaupt nicht beobachtet. Und dafür nicht einmal ein Tabu verantwortlich machen kann. Die allermeisten von uns könnten sogar sagen, Antisemitismus ist im Alltag kein Thema.



Eines allerdings fehlt scheinbar in der Studie. Zumindest gibt die mediale Berichterstattung keinen Aufschluss. Vielleicht liegt es daran, das es sich bei dem folgenden Problem tatsächlich um ein internationales und nicht um ein rein deutsches Phänomen handelt: Nämlich die Frage, wie viele Menschen im Zusammenhang mit der globalen Finanzkrise „latent“ antisemitistisch denken bzw. sich sogar äußern oder zu einem neuen Antisemitismus gefunden haben.

Es scheint tatsächlich eine Tabuaufweichung zu geben, die im ersten Schritt Banken wie Goldman Sachs und Co als Verursacher der Finanzkrise sehen und im zweiten Schritt eben daraus einen neuen Antisemitismus entwickeln. Also quasi eine Reaktivierung des „Internationalen Finanzjudentum“ der Nationalsozialisten. Dazu gibt es keine Untersuchungen.

Aber eben da findet sich ein erschreckender
20%-plus-X-Konsens, der wenig bis gar nichts mit ein paar Idioten auf dem Fußballplatz oder Schulhof zu tun hat. Aber klar: Die weitaus gefährlichere Brand-Konstruktion: – finanzkrise, juden, goldmannsachs – bekommt niemand hin von den Fußball-Antisemiten. Antisemiten sind die Bildungsfernen. Zumindest scheint das bisher noch eine tröstliche Behauptung. Und wenn Bildung nun automatisch Antisemitismus-steigernd wäre, au weia – dann wird es wirklich düster.
Alexander Wallasch - 24. Jan, 07:58

Zusammenfassung

Wie man mir netterweise via E-Mail mitteilte, hat der Artikel erwartungsgemäß bei Facebook für gewisse Unruhe gesorgt. Ich fasse aber gerne nochmal zusammen:

1. die Kommission ist ungefähr so unabhängig wie der Verfassungsschutz von Thüringen.
2. Das der Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft angekommen sei, damit zu begründen, das in Fußballstadien schon mal antisemitische Parolen gebrüllt wurden ist frech und unwissenschaftlich.
3. Man muss sich die Frage stellen, ob wachsender Antisemitismus auch etwas mit wachsendem Islamismus in D zu tun hat.
4. Die Finanzkrise könnte eine neue Qualität von Antisemitismus in die Gesellschaft bringen, der im Bericht überhaupt nicht Erwähnung findet. Das heißt, die "Experten" haben Ihre Hausaufgaben schlecht gemacht.

Shhhhh - 24. Jan, 08:29

Sehr gut recherchiert. Ähnliches dachte ich mir bereits, als ich gestern im Radio davon hörte. Was aber die "Unabhängigkeit" der Kommission anbelangt, weiß ich nicht, wie diese auszusehen hätte, um den Maßstäben gerecht zu werden. Wenn die Bundesregierung eine Studie in Auftrag gibt oder die DFG Gelder springen lässt, sind das für mich kaum verschiedene Paar Schuhe. Auf das "unabhängig" kann meinetwegen gerne immer verzichtet werden. Man sollte sich von dem Gedanken frei machen, dass etwas unabhängig sei, schon das Erteilen einer Aufgabe schränkt die Unabhängigkeit ein und ihre Akteure sowieso. Hier herrscht also einfach nur ein falsches Vokabular vor.
Alexander Wallasch - 24. Jan, 08:50

@ Shhhhh Das ist sicher auch in Teilen wahr. Aber ebenso wahr ist auch, das die "Begründung" für 20% Antisem. von einer Latenz hergeleitet wird, was ich äußerst bedenklich finde. Das ist ungefähr so bedenklich, wie Wolfssohns Behauptung in der FTD, das Juden grundsätzlich im kapitalistischen System aufstiegsorientiert wären. Denn das spielt einem Antisem. von ganz neuer Qualität in die Hände (Siehe dazu mein Schlußabsatz). Ergo: Es wird von "Antisem.-Experten" eine Menge Dünnes geschrieben und festgestellt.

https://www.ftd.de/politik/deutschland/:antisemitismus-die-linke-muss-antisemitisch-sein/60068113.html
Alexander Wallasch - 24. Jan, 10:29

Originalauszug aus dem Bericht. Soviel zur Latenz.

"Die Bemühungen, antisemitische Einstellungen in der Bevölkerung mit Hilfe von Meinungsumfra-gen zu erfassen, sind methodisch mit einer Reihe von Problemen behaftet. Die Einschätzung der Entwicklung antisemitischer Einstellungen über einen längeren Zeitraum wird vor allem durch den Mangel an aktuellen Langzeituntersuchungen (mit Ausnahme der unten zitierten Studie „Gruppen-bezogene Menschenfeindlichkeit“ der Universität Bielefeld und der im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung erstellten Studien von Brähler und Decker) erschwert, während die vorliegenden Befragungen aufgrund von Unterschieden bei Erhebungs-methoden, dem Aufbau des Fragebogens, der Formulierung der Fragen etc. nicht immer im vollen Umfang kompatibel sind."

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